Zum Sonnenaufgang an’s Meer

Der Plan
Durch Corona, Homeoffice und den fehlenden Arbeitswegen per Rad leidet die Fitness doch ein wenig. Hinzu kam eine Woche Bereitschaft, durch die auch mögliche Ausfahrten entfielen, und auch die abgesagte Mecklenburger Seen Runde, die eigentlich dieses Wochenende sonst wäre…
Insgesamt kam bei mir das Gefühl auf: „So geht’s nicht weiter - es muss mal ne nette Tour her!“
Angeregt von einer Hausaufgabe, die ein Kind von uns bekam: „Gucke Dir den Sonnenaufgang an“, dachte ich: Wenn Sonnenaufgang, dann am Meer! Da Nord- und Ostsee erreichbar sind, bietet sich dafür die Ostsee an.
Wir leben in einem Bundesland, in dem einige Ortschaften schöne oder schräge Namen haben, wie zum Beispiel „Blomesche Wildnis“, „Sibirien“ oder „Kummerfeld“. Und von daher war das Ziel auch schnell gefunden - Kalifornien!
Denn wenn die Möglichkeit besteht, zum Sonnenaufgang nach Kalifornien zu fahren oder zum Schönberger Strand, dann wähle ich doch Kalifornien.
Von der Familie habe ich frei bekommen - super!
Also am Rechner die Tour geplant, so dass Hin- und Rückweg unterschiedlich sind. 230 km insgesamt und davon 110 km Hinweg.
Route
Der Termin am Strand stand ja fest - laut Sonnenaufgangs Webseite ging die Sonne am 21.05. um 05:05 Uhr auf (in Kiel, was so ziemlich der geografischen Breite entspricht).
Also eine schöne Nachtfahrt und dann morgens zurück, bevor die Bollerwagen-Front auffährt (wenn dem denn so ist zu Corona-Zeiten) und es eventuell durch Glassplitter unschön wird.
Da bei der Tour der Untergrund bunt gemischt ist (Feld- und Waldwege genauso wie Bundesstraßen), plante ich zwischen 22 und 23 Uhr am Mittwochabend loszufahren - man muss ja nicht hetzen, und ich wollte den Sonnenaufgang nicht wegen eines Plattens verpassen. Wobei auch klar war, wenn es wegen Bewölkung keinen Sonnenaufgang zu sehen gibt, ist es auch kein Beinbruch - nur das I-Tüpfelchen würde dann natürlich fehlen.
Also hab ich in unserer Fahrrad-Liste nachgefragt, ob jemand Lust hat mitzukommen, und tatsächlich war mein Kumpel Christian spontan bereit, gemeinsam die Tour zu meistern.
Abends wollte ich mich noch ein Stündchen hinlegen, aber mir geht dann dauernd was im Kopf rum:

  • vergiss nicht das Werkzeug!
  • sind die Klamotten warm genug?
  • die Kette muss noch geölt werden…
  • ach ja, den Cleat vom rechten Schuh musst du noch verstellen, wegen der Knieprobleme…

So wird das nichts mit dem Schlafen… also aufstehen und gemütlich die Sachen klar machen.
Vom frisch gebackenen Baguette was streichen für’s Frühstück, Kaffee in die Thermoskanne und alles einpacken.

Los geht’s
Kurz nach 22 Uhr kommt Christian, und gegen 22:20 Uhr machen wir uns auf den Weg durch die einbrechende Dunkelheit. Mein Randonneur ist mit Nabendynamo-Lichtanlage gut ausgerüstet, Christians Rennrad mit der Batterie-Leuchte stand dem aber kaum nach.
Zuerst war es noch etwas dämmerig, aber nach und nach wurde es immer dunkler. Und ich muss ja sagen, mir gefallen Nachtfahrten sehr. Kein thermischer Wind, wenig bis kein Verkehr, Reduzierung der optischen Eindrücke - dadurch verstärken sich die anderen - Gerüche (die Wiese wurde gerade gemäht, da hinten muss ein Kuhstall sein…), Geräusche - wir haben mehrmals eine Nachtigall gehört, und auch das Temperaturempfinden - zum Beispiel wenn’s im Treenetal duch die Wiesen mit aufsteigenden Nebel geht.
Irgendwann haben wir durch Zufall die ISS gut sehen können. Natürlich war es nicht irgendwann, sondern es muss ziemlich genau 0:45 Uhr gewesen sein. Dank Smartphone ist schnell klar, dass es die ISS gewesen sein muss (ok, wäre auch ohne Smartphone klar gewesen, aber so konnten wir die Überflugzeit kontrollieren).
Später haben wir mitten in der Pampa eine kleine Pause zum Beine-Vertreten gemacht und uns an dem Sternenhimmel erfreut. Wir wohnen in der Nähe von Hamburg - das heißt, richtig dunkel wird’s nie. Hier war es deutlich dunkler - wir konnten die Milchstraße sehen und nebenbei ein paar Satelliten.
Es wurde allerdings auch etwas frisch, wenn das Pedalieren wegfällt - deshalb waren unsere Pausen auch nicht sehr lang.
Wir haben auch einige Rehe - zwei davon sehr dicht im Scheinwerferlicht - und andere Tiere gesehen.
Gegen drei Uhr wurde es leicht dämmerig, und wir waren auch nicht mehr so weit weg. Deshalb haben wir uns noch zu einem kleinen Abstecher nach Schönberg entschlossen, um uns die beleuchtete Kirche anzusehen und ein paar Fotos zu machen. Zuerst, die Kirche war noch weit weg, fragte ich mich, was das beleuchtete Objekt wohl wäre? Christian witzelte, dass es bestimmt ein Raiffeisen-Silo ist.
Sightseeing

Zwischenziel erreicht
Am Strand waren wir dann eine gute halbe Stunde vor der Zeit, was auch nett war, weil die Stimmung mit den Pastelltönen vor’m Sonnenaufgang noch besser war als der Aufgang selbst.
Ich hab’ die durchgeschwitzten Klamotten gewechselt - dafür ist der Platz in der Poporakete sehr praktisch, und dann haben wir gemütlich am Strand gefrühstückt.
Danach konnten wir den Sonnenaufgang genießen - alles wie im Bilderbuch.
Sonnenaufgang in Kalifornien
Am Strand waren wir auch komplett alleine - auf den Wegen dahinter waren nachher ein paar Hundebesitzer zu sehen. Wir haben uns wieder auf den Weg gemacht und planten irgenwann einen Stopp beim Bäcker oder einer Tanke ein, um unsere Vorräte aufzufüllen.
In Malente war der erste Bäcker noch nicht offen (es war kurz nach sieben), aber beim Zweiten wurden wir fündig und konnten sogar draußen die Brötchen mit einem weiteren Kaffee genießen. Zum Glück, denn einen weiteren Bäcker oder eine offene Tankstelle gab’s für den Rest der Tour dann auch nicht mehr.
Wie schon geschrieben, gibt’s hier so einige nette Ortsnamen. Der Strand zwischen Kalifornien und Schönberger Strand heißt zum Beispiel Brasilien. An „Weitewelt“ sind wir knapp vorbei gefahren, aber dafür haben wie uns eine Pause in Berlin gegönnt - sogar am Potsdamer Platz.
Pause in Berlin
Durch den mäßigen Trainingszustand wurde es auch teilweise etwas zäh - immer wieder ging es rauf und runter (Süddeutsche würden sagen, es war alles flach), denn wir streiften die Holsteinische Schweiz. Insgesamt kamen 1650 Höhenmeter zusammen. Der Auto- und auch Radverkehr nahm merklich zu - und zeigte uns damit, wie schön wir es in der Nacht hatten!
Wir kamen aber gut durch, und den ersten Bollerwagentrupp sahen wir erst zwei Kilometer vorm Ziel. Auf der Tour hatten wir auch nur einen Platten, der auch schnell behoben war.
Um 12:30 Uhr waren wir wieder zuhause und konnten die Tour mit einem oder zwei alkoholfreien Hefeweizen begießen.